Artikel von Gudrun Berninger († 2006) – (neu gesetzt)
Mit der organisierten Arbeiterbewegung entstand auch der erste Arbeiter-Gesangverein. Er wurde 1863 auf Anregung von Ferdinand Lassalle in Frankfurt gegründet. Der erste Arbeiter-Sängerbund hieß »Lassalia«. Auch am Untermain gab es zahlreiche Arbeiter-Gesangvereine. Sie grenzten sich gegen die bürgerlichen Vereine ab und betrachteten sich als Teil der Arbeiterbewegung und ihrer Bildungsbestrebungen. Das »Dritte Reich« behandelte die Arbeiter-Gesangvereine als feindliche Organisationen und verbot sie 1933. Einige entstanden 1945 wieder, die meisten gaben aber den Namensbestandteil »Arbeiter« auf.
»Sind wir von der Arbeit müde, ist noch Kraft zu einem Liede«.
Auf den Spuren der Arbeiter-Gesangvereine, die am Untermain und im Spessart bestanden haben.
Der Vorschlag, die Arbeiter-Gesangvereine zu beschreiben, die zwischen dem Ende des vergangenen Jahrhunderts und 1933 am bayerisch-hessischen Untermain und im Spessart bestanden haben und von denen es einige wenige noch heute gibt, erreichte mich im August 1992. Damals dachte ich, dem Thema ohne besondere Mühe gerecht werden zu können, hatte ich doch jahrzehntelang aktiv in der Vorstandschaft des Maintal-Sängerbundes gearbeitet und sein Archiv geordnet.
Doch ich musste erfahren, dass es leichter ist, etwas über die Adeligen des Mittelalters zu erfahren als über Arbeitersänger des 19. und 20. Jahrhunderts. Meine Lexika, Erscheinungsdaten zwischen 1900 und 1992, kennen nicht einmal den Begriff »Arbeiter-Gesangverein«. Und auch in den Nachschlagewerken, über die die Aschaffenburger Bibliotheken verfügen, ist nichts zu finden.
Ein entscheidender Grund für das beinahe gänzliche Fehlen von ausreichendem Material ist die Zerschlagung der Arbeiter-Gesangvereine durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933. Das »Dritte Reich« hatte sie nicht wie die bürgerlichen Gesangvereine und die Verbände anderer Sparten des Vereinswesens in entsprechende NS-Gruppierungen übergeführt, sondern hatte sie wie verbrecherische Organisationen behandelt, verboten, ihnen Fahne, Geld und Eigentum weggenommen und ihre Unterlagen vernichtet.
So galt es, erstens, meinen Spürsinn einzusetzen, zweitens, auf die Hilfe meiner Freunde zu hoffen und, drittens, dem Zufall zu vertrauen, der mir schon öfter hold war. Ich wurde in keiner Beziehung im Stich gelassen und das Ergebnis möchte ich nachfolgend unterbreiten:
Frankfurter Arbeitersänger. Die Revolution von 1848 hatte in vielen Menschen zu große Erwartungen geweckt. Der Kampf um soziale Besserstellung und um Freiheit von obrigkeitlicher Bevormundung ging weiter. 1863 gründete Ferdinand Lasalle mit dem »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« die erste Partei der deutschen Arbeiterbewegung. Im Zusammenhang damit entstanden auch die ersten selbständigen Arbeiter-Gesangvereine. Man wollte frei sein, und wenn man es schon nicht war, wollte man wenigstens um ein Quentchen Freiheit kämpfen – und sei es nur um die Freiheit der Gedanken oder die Freiheit, ein Lied zu singen, das den Oberen nicht genehm war.
Eine Einführung in die Anfangsjahrzehnte der Arbeitersängerbewegung findet sich, mit »CF« gezeichnet, in dem »Fest-Buch«, das 1906 in Hanau anläßlich des 3. Bundesfestes des »Arbeiter-Sängerbundes für den Rhein-und Main-Gau« herauskam (siehe Bild unten Festbuch: »Die mittlere Gliederungsebene …«)
Darin heißt es: »Bereits 43 Jahre sind ins Land gegangen, seit sich (also 1863) in Frankfurt auf Anregung Ferdinand Lassalles der erste Arbeiter-Gesangverein gegründet hat. Das damalige Bürgertum hatte seine Ideale von 1848 vergessen, und in den Gesangvereinen verschwanden die Freiheitschöre vollständig. An ihre Stelle traten tendenzlose und patriotische Gesänge.
Zusammen mit der sozialistischen Arbeiterbewegung entstanden auch die Arbeiter-Gesangvereine. Der erste wurde 1863 in Frankfurt gegründet, Ferdinand Lassalle hatte die Anregung gegeben. Am bayerischhessischen Untermain gab es die ersten um 1900. Das Arbeitergesangvereinswesen bestand zwar parallel zu den bürgerlichen Gesangvereinen und war ähnlich wie diese gegliedert. Es bildete jedoch eine Gegenwelt zu ihnen und operierte als Bestandteil der Arbeiterbewegung und ihrer kunstpädagogischen Bildungsbestrebungen. Die Lieder der Arbeitersänger spiegelten die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft, besonders der Fabrikarbeiter und der Bergleute. Kämpferisch tönte aus ihnen die Sehnsucht nach Verbesserung der materiellen Bedingungen ihres Daseins und nach gesellschaftlicher Anerkennung des Arbeiterstandes.
Bürgerliche Gesangvereine sehen Proletarier nicht gern, Arbeitergesangvereine nehmen nur Arbeiter.
Der Sängerbund Lassalia. Es war mit dem Erwecken der Arbeiterklasse zur selbständigen Partei schon damals ein Bedürfnis, einen ausgesprochenen Arbeiter-Gesangverein zu gründen, dessen Aufgabe es war, durch Freiheitschöre die Massen des Volkes zu begeistern. >Bet und arbeit< war das erste Lied, das Lassalles Verein einübte. Trotz der Verfolgungen, unter denen der Verein zu leiden hatte, machte derselbe gute Fortschritte. Es gesellten sich weitere Vereine hinzu, so dass schon Mitte der 70er Jahre in Frankfurt ein Arbeiter-Sängerbund >Lassalia< entstand. Leider sollte er nicht von langem Bestande sein. Mit dem Sozialistengesetz von 1878 wurden nicht nur die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zertrümmert, auch die Arbeiter-Gesangvereine fielen diesem zum Opfer. In den 80er Jahren gründeten sich dann wieder neue Chöre. Doch das Sozialistengesetz lastete noch immer auf den Vereinen und man befürchtete erneut Schikanen bzw. Auflösungen.
Der Gendarm in der Gesangsprobe. 1890, nachdem das fehlgeschlagene Sozialistengesetz endgültig gefallen war, entstand die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Arbeiter-Gesangvereine formierten sich neu. Sie wurden aber immer noch so mit Mißtrauen betrachtet, daß einige von ihnen schwere Kämpfe zu bestehen hatten. Man versuchte, ihnen die Gastwirtschaften abspenstig zu machen, in denen sie sich trafen und ihre Proben abhielten. Die Behörden schränkten ihre Feste ein und verboten ihnen, Umzüge abzuhalten. Anderenorts erklärte man die Arbeiter-Gesangvereine zu politischen Gruppierungen. Auf dieser Grundlage konnten ihnen die Mitgliederlisten abverlangt werden und die Polizei konnte zur Überwachung in die Proben kommen. Doch Nadelstiche dieserArt bewirkten das Gegenteil von dem, was sie erreichen sollten, die Vereine erstarkten weiter.
Bund, Gau, Bezirk, Verein. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das Arbeitergesangvereinswesen organisiert. In vielen Regionen des Reichs gab es Sängerbünde. Ihre Arbeitsgebiete wurden »Gaue« genannt und waren untergliedert in eine Anzahl von Bezirken, denen die Vereine unmittelbar angeschlossen waren. Als Dachverband entstand der »Deutsche Arbeiter-Sängerbund«.
Die Arbeitersänger verschönten mit ihren Darbietungen ihre eigenen Feste und die Veranstaltungen der ihnen geistig und politisch nahestehenden Korporationen. Sie pflegten auch ein Vereinsleben, feierten Gründung und Fahnenweihe ihrer Vereine und die jubiläumsträchtige Wiederkehr derselben. Sie besuchten sich zu ihren Vereinsfesten und veranstalteten Bezirkssänger- und Gautreffen. Mit Wertungssingen, die Konkurrenz- oder Kritiksingen genannt wurden, kontrollierten sie die Qualität ihrer Arbeit und steigerten sie im Wettbewerb mit anderen Arbeiter-Gesangvereinen.
Diese Vereinigungen waren reine Männervereine. Das läßt sich wenigstens für das bayerisch-hessische Untermaingebiet sagen, dem diese Untersuchung gilt. Nur ein Verein, der 1911 gegründete »Vorwärts Kahl«, hatte 1923 einen Frauenchor namens »Lyra« angegliedert. 1925 trat außerdem in einem Kritiksingen in Aschaffenburg ein »Frauenchor Seligenstadt« auf, über den sonst nichts bekannt ist.
Nichts gemein mit Bürgerlichen. Ein Vergleich mit dem bürgerlichen Gesangvereinswesen, das damals auch schon in Blütestand, läßtzwar Parallelen im organisatorischen Aufbau erkennen, doch hatten sich die Arbeitersänger streng gegen die bürgerliche Welt und ihre Vereine abgeschottet. Die Arbeiter-Gesangvereine nahmen nur Arbeiter auf und wollten nicht nur Erbauung und Unterhaltung bieten, sondern waren hingeordnet zur Arbeiterbewegüng, die ja die geistig-kulturelle Bildung der Angehörigen des Arbeiterstandes anstrebte. Mit ihrer Abgrenzung beantworteten sie auch die Arroganz, die in manchen bürgerlichen Vereinen herrschte, die keine »Proletarier« in ihren Reihen haben wollten. Das gespannte Verhältnis, das an manchen Orten zwischen dem Arbeiter-und dem bürgerlichen Gesangverein bestand, konnte, kamen persönliche Unverträglichkeiten hinzu, in regelrechte Kämpfe ausarten. Wenn gar ein Verein versuchte, dem anderen die guten Sänger abspenstig zu machen, war es um den Frieden endgültig geschehen.
Selbstgestellter Auftrag: Das Kulturerbe des Kapitalismus übernehmen und zur Vollendung bringen.
Die frühen Arbeiterparteien und später die sozialdemokratische Partei förderten Vereine, die zwar eigenständig waren, sich mit ihnen aber zu einem Arbeit-Politik-Freizeit-System zusammenschlossen, das um die Partei herum ein Milieufeld ausbreitete, in dem sich ein Mensch zeitlebens bewegen konnte.
Mitglieder und Anhänger, die die Parteiversammlungen besuchten, debattierten auch in den sozialistisch-gewerkschaftlichen Berufsverbänden, sangen im Arbeiter-Gesangverein, ertüchtigten sich im »Arbeiter-Turn- und -Sportbund«, spielten Schach im »Arbeiter-Schach-Bund«, kauften Lebensmittel in einem Geschäft der aus sozialistischen Wurzeln entstandenen Konsumvereine.
Dabei begegneten sie sich immer wieder und festigten im gegenseitigen Geben und Nehmen ihre Gesinnung. Das begrenzte die Gefahr, daß sie sich in der Freizeit zur politischen oder weltanschaulichen Konkurrenz verliefen.
1899 Bund Rhein-Maingau. Der regionale Sängerbund, dem die Vereine des hessisch-bayerischen Untermaingebiets angeschlossen waren, war der »Arbeiter-Sängerbund für den Rhein- und Maingau«. Er entstand 1899 und hatte seine Zentrale in Frankfurt. Ihm traten im Gründungsjahr 29 schon bestehende Vereine mit insgesamt 1 800 Mitgliedern bei. 1902 zählte er 3387 Mitglieder, 1906 etwa 9000 Mitglieder in 135 Vereinen.
Im Mitgliedsbuch eines alten Arbeitersängers sind die leider undatierten Statuten des »Deutschen Arbeiter-Sängerbundes«, des »Sängerbundes Rhein-Maingau« und seines für den Untermain zuständigen Bezirks abgedruckt.
Der »Deutsche Arbeiter-Sängerbund« definiert seinen Charakter so: »Der Bund stellt sich in den Dienst der Arbeiter-Bildungsbestrebungen. Er will vor allem den deutschen Arbeiter-Gesangvereinen die Mittel und Wege weisen, die geeignet sind, die Arbeiter-Gesangvereine zu befähigen, künstlerische Kultur in der Arbeiterschaft zu wecken und zu verbreiten«.
Noten kostenlos. Es gab auch einen eigenen Liederverlag, dessen Eigentümer der Bund gewesen zu sein scheint, denn einer der Paragraphen bestimmt: »Der Liederverlag ist verpflichtet, Freiheitschöre, Volkslieder usw. herauszugeben. Die Abgabe der Chöre (Noten) an die Vereine geschieht unentgeltlich«. In der Satzung des Rhein-Maingaus ist zusätzlich festgelegt, daß die Gauvereine keiner außenstehenden Sängervereinigung angehören, sich nicht an Gesangswettstreiten bürgerlicher Vereine beteiligen und Diplome, Auszeichnungen und dergleichen weder annehmen noch ausgeben durften.
Der Bezirk, dem die Vereine des heute bayerisch-hessischen Grenzgebiets angehörten, trug die Nummer 16. Sein Statut macht allen Vereinen die Teilnahme an den Bezirkssingen und Konkurrenzsingen zur Pflicht. Die Bezirkssängerfeste, die der 16. Bezirk veranstaltete, sind belegt für die vier aufeinanderfolgenden Jahre von 1925 bis 1928 und fanden in Mainaschaff, Aschaffenburg, Stockstadt und Schaafheim statt.
Kulturmission der Arbeiterbewegung. Neben ihrer Zugehörigkeit zu einer weltanschaulich-politischen Bewegung fühlten die Verantwortlichen des Sängerbundes auch eine kunstpädagogische Verpflichtung. Das Hanauer Festbuch von 1906 geht darauf ein:
»Ist es nicht Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung, das Erbe des heutigen kapitalistischen Staates zu übernehmen und ist es nicht vornehmste Pflicht, Musik und Gesang zur höchsten Vollendung zu bringen? Es wird nicht leicht sein, da den meisten Mitgliedern von Jugend an jede musikalische Ausbildung vorenthalten wurde. Die Volksschule beschränkt sich nur darauf, den Schülerinnen und Schülern einige Liedchen patriotischer oder religiöser Art beizubringen. Die Notenlehre, die die Grundbedingung von Musik und Gesang ist, fehlt heute (1906!) noch in fast allen Volksschulen.«
Blüte, Zerschlagung, Mißdeutung. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden in vielen Städten und Gemeinden Arbeiter-Gesangvereine gegründet. Auch nach 1918 entstanden, vor allem auf dem Lande, neue Vereine. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, betrachteten sie die Arbeiter-Gesangvereine als politisch feindliche und sogar marxistische Organisationen, verboten sie und beschlagnahmten ihren Besitz.
Noch heute werden die Arbeiter-Gesangvereine als rein politische Gruppierung betrachtet, die weiland im Singen von Freiheitsliedern und dem Ausgestalten von sozialistischen und gewerkschaftlichen Festen und Feiertagen ihren Sinn gefunden hätten.
Dies ist allzu vereinfacht gesehen. Wie es wirklich war, geht aus den vielen Einzelschicksalen der Arbeiterchöre hervor, die es in unserem Raum gegeben hat. Es war höchste Zeit, ihre Geschichte festzuhalten. Heute, da die bürgerlichen Gesangvereine um ihre Existenz zu kämpfen haben, ist die Epoche der Arbeiter-Gesangvereine vorbei und die Spuren verwischen sich immer mehr.
Brausender Freiheitsgesang. In den Liedern, die von den frühen Arbeiterchören gesungen wurden, spiegeln sich die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft, vor allem der Fabrikarbeiter und Bergleute, und ihre Sehnsucht nach Verbesserung ihrer sozialen Verhältnisse und nach gesellschaftlicher Anerkennung ihres Standes.
Hanau 1906, Fest des Sängerbundes Rhein-Main. Aus 1 179 Männerkehlen klingt »Empor zum Licht!«
1906 waren beim 3. Bundesfest des Sängerbundes Rhein-Maingau in Hanau (Motto: »Heil freiem Volk! Heil freiem Lied!«) als Massenchöre gesungen worden: »Empor zum Licht« (1179 Sänger), »Festgesang« (1054Sänger), »Stolz und kühn« (587 Sänger), »Dem Lenz entgegen« (451 Sänger), alle von Gustav Adolf Uthmann, ferner »Liebeslust« (562 Sänger unter einem Hanauer Dirigenten namens Josef Centner) und »Wir glauben an der Freiheit Sieg« (284 Sänger), beide von O. Suchsdorf.
Auf den Vortragsfolgen von späteren Veranstaltungen finden sich noch weitere Titel. Sie lassen sich zu einem politischen Programm aneinanderreihen:
Der tonangebende Komponist ist G. A. Uthmann. Klangliche Wucht wird seinen Liedern nachgerühmt.
»Aus Arbeitsstätten voller Lärm«. »Lied der Bergarbeiter«. »Im dunklen Schacht«. »Grubenunglück«. »Opfer der Arbeit: Halbmast die Fahnen«. »An der Bahre«. »Das arme Kind«. »Wir bauen eine neue Welt«. »Auf, Sozialisten, schließt die Reihen«. »Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben«. »Seht, wie die Söhne der Arbeiter streben«. »Wir wollen Sturm«. »Unser Lied«. »Kampflied«. »Frei wollen wirsein«. »Brause, du Freiheitsgesang«. »Der Freiheit mein Lied«. »Der Freiheit eine Gasse«. »Der Völker Freiheitssturm«.
Uthmanns Bannerträger. Auch wer diese Lieder nicht kennt, kann sich den Inhalt ebenso vorstellen wie die aus der Zeit geborene wohltönende Mischung aus Kämpfertum und Pathos, von der die Texte durchrauscht waren. Bei dem Lied aber, das sich im Maingebiet der größten Beliebtheit erfreute und das offenbar mit besonderer Inbrunst geschmettert wurde, »Tord Foleson«, bleibt der Titel stumm. Es bedurfte eines beträchtlichen Spürsinns, der bis zum Fränkischen Sängermuseum in Feuchtwangen führte, um die beiden rätselhaften Worte und die Bedeutung zu entschlüsseln, die sie damals hatten.
Der Gesang ist eine nordisch-balladeske Parabel und schildert den Kampf einer »neuen« gegen eine »alte« Zeit. Tord Foleson trägt das Banner der neuen Zeit. Der Bezug zur Arbeiterbewegung mit ihrem Glauben an die auch den individuellen Tod überwindende Kraft der Idee stellt sich ein, wenn der zu Tod getroffene Tord Foleson mit letzter Kraft das Banner in die Erde stößt. Dann jauchzt der Chor den Liedschluß, der zum Bannerspruch vieler Arbeiter-Gesangvereine geworden war:
»Tord fiel zu Boden, doch das Banner stund. Und das ist das Herrliche, Große auf der Welt: Das Banner kann stehen, wenn der Mann auch fällt!«.
Der Chor »Tord Foleson« stammt von Gustav Adolf Uthmann. 1867 in Wuppertal-Barmen geboren, war er der erfolgreichste Komponist von Arbeitergesängen und hat mit seinen Chören wie kein Zweiter die Arbeiter-Sängerbewegung geprägt. Die klangliche Wucht seiner Kompositionen ließ den einfachen Menschen das empfinden, was er nicht zu formulieren vermochte. Uthmanns Lieder bestritten oft ganze Sängerfeste. Allein vier der sechs Gesänge, die 1906 in Hanau beim Bundesfest Rhein-Maingau dargeboten wurden, waren von ihm. Er starb 1920.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Repertoire erweitert und erhielt einen neuen Schwerpunkt. Neben dem Freiheits- und politisch-sozialistischen Kampflied wurde jetzt auch das Volks- und Kunstlied gepflegt. Darüber wird später noch etwas zu sagen sein.
Erste Vereine. »Edelweiß« Mainaschaff, »Union« Aschaffenburg und »Bruderkette« in Schaafheim.
Bayern und Preußen. Es ist heute schon nicht mehr möglich, eine vollständige Liste der Chöre zusammenzustellen, die in unserem Raum existiert haben. Die mehrfach erwähnte Festschrift zum Hanauer Fest des Bundes Rhein-Maingau von 1906, die durch einen Zufall erhalten blieb, hat sich auch in dieser Hinsicht als eine wichtige Quelle erwiesen. (Anmerkung Manfred: Ich besitze noch zwei Exemplare!)
Sie nennt unter den 135 Chören, die damals im Sängerbund Rhein-Main-Gau zusammengeschlossen waren, drei aus dem bayerisch-hessischen Untermaingebiet, nämlich »Edelweiß« aus Mainaschaff bei Aschaffenburg, »Union« aus Aschaffenburg und »Bruderkette« aus Schaafheim bei Dieburg.
Mainaschaff und Aschaffenburg sind bayerische Orte. Nach 1906 entstanden am bayerischen Untermain noch weitere Vereine. Sie schlossen sich ebenfalls dem Bund Rhein-Maingau an, dessen Zentrum im heutigen Hessen lag, das damals zu Preußen gehörte. Das ist nicht ungewöhnlich. Im westlichen Unterfranken bestand zu jener Zeit und noch viel später im Vereinswesen eine die Staatsgrenze übergreifende starke Orientierung zum Rhein-Main-Gebiet. Sie läßt sich auch in anderen Massenorganisationen, zum Beispiel bei Turn- und Sportvereinen, feststellen.
Die 132 anderen Chöre, die in der Hanauer Festschrift als zum Bund Rhein-Maingau gehörend aufgeführt sind, waren im Großraum Frankfurt/Darmstadt/Wiesbaden/Worms ansässig.
Textbeispiele:
Arbeiter-Bundeslied.
Bet’ und arbeit’ ruft die Welt, bete kurz, denn Zeit ist Geld, an die Türe pocht die Not, bete kurz, denn Zeit ist Brot. Und du ackerst, und du sä’st, und du nietest, und du näh’st und du hämmerst und du spinnst, sag’, o Volk, was du gewinnst?
1863 gründete Ferdinand Lassalle mit dem »Allgemeinen deutschen Arbeiterverein« die erste Partei der Arbeiterbewegung. Auf seinen Wunsch verfaßte der Dichter und Revolutionär Georg Herwegh dieses Lied aIsBundeslied. Es wurde unter dem Pseudonym W. Solinger von Hans von Bülow vertont. Lasalle regte auch in Frankfurt die Gründung des ersten Arbeiter-Gesangvereins an.
Empor zum Licht.
Empor zum Licht! Es wich die Nacht, Nur Wolken noch decken der Sonne Pracht. Erwache, Volk, Erwache!
Die neue Zeit, sie ist genaht, Männer und Frauen, nun auf zur Tat! Reicht euch die Hände zum Freiheitsbund, Donnernd es töne vom Erdenrund, Erwache, Volk, erwache!
Zum dichten Wall schließt eure Reih’n, Da kann nicht Sorge noch Not hinein! Fest wie ein Felsen im wilden Meer Steht dann der Arbeiter gewalt’ges Heer. Erwache, Volk, erwache!
Herbei, herbei aus Stadt und Land, Nehmet den Hammer in eure Hand! Schmiedet und schmiedet! Die Kette springt! Das neue Jahrhundert ihr euch erringt! Erwache, Volk, erwache! Empor zum Licht!
Dieser Chor wurde von Gustav Adolf Uthmann vertont, der im wahrsten Sinn der tonangebende Komponist von Arbeiterchören war. »Empor zum Licht« wurde unter anderem als Massenchor von 1 179 Sängern auf dem 3. Bundesfest gesungen, das der »ArbeiterSängerbund für den Rhein- und Maingau« 1906 in Hanau abhielt. Dem Festbuch, das aus diesem Anlaß erschien, verdanken wir die ersten Nachrichten über die Existenz von Arbeiter-Gesangvereinen am bayerisch-hessischen Untermain.
Tord Foleson.
Sie standen in Norwegs Feld gerüstet zum Streit: Die alte gegen die neue Zeit. Das, was mußt’ fallen, gegen das, was bestehn sollt’; Das, was wollte wachsen, gegen das, was vergehn sollt’.
Da zogen das Schwert sie zur selbigen Stund’, Der kühne, junge Olaf und der graue Torehunt. Und der Heerruf erscholl, daß die Erdfesten dröhten, Und die Pfeile schwirrten und die Spieße stöhnten.
Nun meldet die Sage: Da trug ein tapfrer Mann, Tord Foleson, Olafs Banner voran. Von diesem Bannertäger wird man singen und sagen, Solang man in Norweg Banner wird tragen.
Denn wie er die tödliche Wunde empfing, Weit vor in den Kampf mit dem Banner er ging. Und bevor er fiel, mit der letzten Kraft Fest in die Erde stieß er den Schaft.
Und die alte Sage, sie tut uns kund: Tord fiel zu Boden, doch das Banner stund! Und solches soll fürder ein jeder noch wagen, Der das Freiheitsbanner im Kampf mag tragen.
Der Mann mag sinken, wenn das Banner nur steht, Gleich jenem in Norweg Feld, wie die Sage geht. Und das ist das Herrliche, Große auf der Welt: Das Banner kann stehen, wenn der Mann auch fällt!
Das ebenfalls von Uthmann komponierte nordisch-balladenhafte »Tord Foleson« gehörte zu den Leib- und Magenliedern der Arbeitersängerbewegung. In mythischer Verklärung vermittelt es die Zuversicht, die aus der Kraft der Idee kommt, die den Tod des Individuums überdauert. Uthmann starb 1920, und auch nach seinem Tod gehörte »Tord Foleson« noch lange Zeit zum Repertoire der Arbeiter-Gesangvereine. Besonders gern wurde es am bayerisch-hessischen Untermain aufgeführt. Belegt ist das für Bürgstadt, wo »Tord Foleson« 1927 bei der Einweihung eines Denkmals für den 1925 gestorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert erklang.
Alle Arbeiter-Gesangvereine haben ein gemeinsames Schicksal: Verbot durch die Nazis 1933.
Vom Ende des vergangenen Jahrhunderts an entstanden in vielen Orten Arbeiter-Gesangvereine. Ihnen allen gemeinsam ist das Schicksal des Verbots durch die Nationalsozialisten. Das Vermögen wurde beschlagnahmt, die Noten und der Schriftverkehr wurden vernichtet, die Fahnen mißhandelt. In Krombach schmetterten die Arbeitersänger im April 1933 noch in einer Veranstaltung der NSDAP »Der Völker Freiheitssturm«, dann lösten sie sich schnell selber auf, verkauften ihr Harmonium und setzten das Bargeld in Bier um. In Stockstadt schmuggelte ein Mutiger aus dem Vereinsschrank, der bereits versiegelt war, noch die Noten einiger Arbeiterchöre heraus. In Schaafheim, wo das Geld auf Sparkonten lag, hoben die Sänger vor der Beschlagnahme der Sparbücher schnell noch Beträge ab. Das kam heraus und die Polizei fahndete nach dem Geld.
Die Schrift, die 1906 in Hanau zum Fest des Sängerbundes Rhein-Maingau erschien, zählt drei Vereine auf, die damals am hessisch-bayerischen Untermain bestanden. IhrSchicksal läßtsichheute nur noch aus Nachrichten übereinzelne Episoden ihres Vereinslebens umreißen.
Ein »unpolitischer« Arbeiterchor. Der älteste war »Edelweiß« in Mainaschaff. Er wurde am 1. November 1893, also noch vor dem Sängerbund Rhein-Maingau, als Gesangverein »Edelweiß-Mainaschaff« gegründet und hatte damals 30 aktive Mitglieder.
Am 19. November 1893 unterschrieb der Ausschuß (Vorstand Joseph Schättler, Kassier Benedikt Elbert, Schriftführer Johann Fleckenstein, Conservator Martin Roth, außerdem drei Beisitzer und zwei Revisoren) ein Papier, in dem der »Zweck« des Vereins festgelegt wurde, er sei die »Pflege und Ausbildung des mehrstimmigen Männergesanges in gesellschaftlicher Einigung und Erhellung des Gemütes und Veredlung des Geistes. Die Verfolgung politischer Ziele ist für immer ausgeschlossen«.
Trotz der Betonung des unpolitischen Charakters kann »Edelweiß« als Arbeiterverein eingestuft werden. Vielleicht bestand kurz nach Beendigung des Drucks, der vom Sozialistengesetz ausging, einfach das Bedürfnis, sich so zu deklarieren, daß man in Ruhe gelassen wurde. Bald nach »Edelweiß«, 1895, entstand überdies in Mainaschaff ein zweiter, rein bürgerlicher Gesangverein, der dem »Edelweiß«-Chor die guten Stimmen abzuwerben versuchte.
Gleichgeschaltet, aber nicht verboten. Außerdem schloß sich »Edelweiß« den Organisationen des Arbeitergesangvereinswesens an. Er trat dem »Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Sängerbund« bei und wurde Mitglied des Sängerbundes Rhein-Maingau. Ab 1910 beteiligte er sich regelmäßig an den Konkurrenzsingen in Frankfurt, Hanau, Babenhausen, Seligenstadt , Schaafheim und Aschaffenburg. Geboten wurden jeweils ein Freiheitschor und ein Volkslied. Bei dem Konkurrenzsingen, das am 26. Juli 1914 in Seligenstadt abgehalten wurde, erreichten die Mainaschaffer den vierten Platz der Wertung.
Im Juni 1925 feierte Edelweiß sein 30jähriges Bannerweihfest. Gleichzeitig hielt der 16. Bezirk des Rhein-Maingau-Bundes in Mainaschaff das erste seiner Bezirkssängerfeste ab.
Kurz bevor der Verein sein 40jähriges Bestehen hätte feiern können, zogen dunkle Wolken auf. Er wurde von den Nationalsozialisten »gleichgeschaltet«, Die Vorstandschaft mußte zurücktreten, Männer, die den neuen Machthabern genehmer waren, übernahmen die Leitung. Während sich aber damals die anderen Arbeiter-Gesangvereine unter politischem Druck auflösen mußten, konnte »Edelweiß« seinen Chor über Wasser halten. Vielleicht kam dem Verein dabei der Satz über den Ausschluß politischer Zielsetzungen zu Hilfe.
Aschaffenburger »Union«. Der Aschaffenburger »Arbeiter-Gesangverein Union« wurde 1896 gegründet und muß ein sehr aktiver Chor gewesen sein. Trotzdem blieb kaum etwas über ihn erhalten.
Am 10. und 11. Juli 1926 feierte er sein 30jähriges Bestehen. Es war mit dem 2. Bezirkssängerfest verbunden. Der Platz, auf dem gefeiert wurde, ist heute nicht mehr vorhanden. Es war die »Schießhaus« genannte weitläufige Anlage der »Kgl. Priv. Schützen-Gesellschaft« in der Ludwigsallee 2 (heute Pestalozzischule), auf der sich das Vereinshaus und die Schießanlagen befanden und in der auch andere Vereine gern ihre Feste abhielten. Dort war am Samstagabend Kommers, dorthin zog am Sonntag, nachdem die auswärtigen Vereine eingetroffen waren, der Festzug, dort erklangen Einzel- und Massenchöre.
Wirtschaftskrise, Inflation, Notzeit. Mancher Arbeiter kann sich nach der Probe kein Bier mehr leisten.
Die liberale »Aschaffenburger Zeitung« veröffentlichte mit der Überschrift »Singe, wem Gesang gegeben« einen knappen Bericht: »Zum 30jährigen Stiftungsfest des hiesigen Arbeiter-Gesangvereins, verbunden mit 2. Bezirks-Sängerfest, hatten sich gestern auch zahlreiche Teilnehmer von auswärts eingefunden. Die Veranstaltungen spielten sich hauptsächlich in den festlich geschmückten Schießhausanlagen ab. Der vorübergehend eingesetzte Regen konnte der Geselligkeit und Eintracht und dem Frohsinn keinen Abbruch tun.
Manch schöner, erhebender Gesang kam zu Gehör, und man kann sich nur darüber freuen, dass auch in freien Arbeiterkreisen Volkslied und volkstümlicher Chor begeisterte Anhängerschaft haben. Die Mühe der Dirigenten hat gute Früchte gezeitigt. Die Stadtkapelle Aschaffenburg trug dazu bei, die Festlichkeiten genussreich zu gestalten. An dem Festzug, der sich nachmittags nach 2 Uhr zum Festplatz bewegte, nahmen außer den Sangesbrüdern auch Turner und Radfahrerabteilungen teil. Eine Anzahl Häuser hatte mit republikanischen und bayerischen Farben geflaggt.«
Damals hatte der Chor 32 Aktive, sein Dirigent war der Musiklehrer Richard Kramer, der bis 1945 dem Lehrkörper der Aschaffenburger Musikschule angehörte. 1928 wurden die Aschaffenburger Arbeitersänger nach Bürgstadt eingeladen. Der dortige Arbeiter-Gesangverein hatte zwei Jahre zuvor in Aschaffenburg am Jubiläumsfest der »Union« teilgenommen und beging nun seine Fahnenweihe, bei der die »Union« Patenverein war. Über das Ende der »Union«, das wohl dem der anderen Arbeiterchöre glich, war nichts zu ermitteln.
Drei Tage Fahnenweihfest. Der jüngste der drei Vereine, die die Hanauer Festschrift aufführt, ist der »Arbeiter-Gesangverein Bruderkette« in Schaafheim, das damals zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt gehörte. Er wurde 1903 von Maurern, Zimmerleuten, Handwerkern und Arbeitern gegründet, die sich wegen der schlechten sozialpolitischen Lage zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam zu singen und für die Ziele der Arbeiterschaft zu kämpfen. Der Verein zählte 35 Aktive.
Zur selben Zeit entstanden auch in den Nachbarorten Langstadt, Sickenhofen, Babenhausen, Dudenhofen, Spachbrücken und Reinheim Arbeiter-Gesangvereine, zu denen enger Kontakt gehalten wurde.
Bereits 1907 konnte sich »Bruderkette« eine Fahne leisten. Sie wurde von dem damaligen Landtagsabgeordneten Karl Ulrich enthüllt und trug den Wahlspruch: »Sind wir von der Arbeit müde, ist noch Kraft zu einem Liede«. Die Bevölkerung hatte den Ort mit Girlanden und Fahnen geschmückt und feierte das dreitägige Fahnenweihfest mit.
Das Vereinsleben verlief in geordneten Bahnen, man sang Freiheitschöre wie »Empor zum Licht«, aber auch das romantische »Tief ist die Mühle« und »Abendglöckchen« oder »Seemannstreue«. Im Ersten Weltkrieg, der 24 Aktive in den Tod riß, ruhte der Verein. Ab 1919 blühte der Chor wieder auf, bald zählte man an die 100 aktive Sänger. Am 27. Juni 1928 wurde das 25-jährige Bestehen gefeiert und gleichzeitig das 4. Bezirkssängerfest abgehalten.
Verbot und Auflösung. In Schaafheim werden die Guthaben auf ein Beschlagnahmekonto überwiesen.
Not und Verbot. Die Wirtschaftskrise und die Inflation brachten viele Sänger in Not. Manche wurden arbeitslos und konnten sich nach der Probe nicht einmal mehr ein Glas Bier leisten. Dass der Verein überlebte, verdankt er seinem damaligen Chorleiter Darmstädter, einem Idealisten, der nicht nur die Singstunden kostenlos abhielt, sondern auch, Singen macht Durst, manche Maß Bier stiftete. 1933 zerriss die »Bruderkette« unter der braunen Gewalt, von der alle Arbeiter-Gesangvereine betroffen waren. Abschriften von einigen der in diesem Zusammenhang entstandenen Schriftstücke sind im Gemeindearchiv erhalten und geben einen bruchstückhaften Einblick in die Art und Weise, in der die neuen Machthaber gegen die Arbeitergesangvereine vorgegangen sind.
Die hessische Staatsregierung hatte die »Bruderkette« als »marxistischen Verein« eingestuft und die Auflösung angeordnet. Das Hessische Kreisamt Dieburg, die Vorgängerbehörde des späteren Landratsamts, hatte die Auflösung und die Beschlagnahme des Vermögens verfügt. Das Kassenbuch mußte nach Dieburg abgeliefert werden. Die Polizei zog die Sparbücher der Konten ein, auf denen das Geld des Vereins lag.
Beschlagnahmekonto Nr.40. Für die Vermögen verbotener Organisationen, zu denen nicht nur die Arbeiter-Gesangvereine gehörten, waren bei der Dieburger Zweigstelle der Bezirkssparkasse Groß-Umstadt Beschlagnahmekonten eingerichtet worden. Das für die »Bruderkette« vorgesehene Konto hatte die Nummer 40, ein Beleg dafür, wie vielen missliebigen Gemeinschaften in dem relativ kleinen Dieburger Amtsbezirk die Mittel entzogen wurden.
Die Sparkassen, auf denen die »Bruderkette« ihr Geld hatte, ein Konto bestand übrigens beim »Konsumverein für Aschaffenburg und Umgebung«, erhielten die Nachricht, daß die Konten gesperrt sind. Sie wurden angewiesen; Guthaben und Zinsen auf das Beschlagnahmekonto Nr. 40 zu übertragen.
Der Besitz wird verschleudert. Später wird die Fahne wiedergefunden, zerrissen und beschmutzt.
Die »Bruderkette«-Leute hatten noch geglaubt, den zeitlichen Spielraum nutzen zu können, der zwischen Verbot und Beschlagnahme lag. Vor der Beschlagnahme hatten sie Beträge abgehoben und, als »Vergütungen« deklariert, an die Vorstandsmitglieder ausgezahlt. Anhand des Kassenbuchs konnte aber die Differenz leicht ermittelt werden. Das Kreisamt setzte in Schaafheim die Gendarmerie, die Bürgermeisterei und den NSDAP-Ortsgruppenleiter in Bewegung. Sie mußten wegen Vermögensverschiebungen ermitteln und die Beträge zurückverlangen, damit auch sie auf das Beschlagnahmekonto kamen.
Auch das Notenmaterial wurde den Sängern weggenommen, das Klavier kam in ein Arbeitsdienstlager nach Seligenstadt. Das Mobilar wurde an Parteifreunde gegen niedrigstes Gebot verschleudert. Später fand man die Vereinsfahne wieder, sie war zerrissen und verschmutzt. Einem Sänger war es 1933 gelungen, das Protokollbuch sicherzustellen, so dass in diesem Fall die Vereinsgeschichte, deren Verlauf für viele andere Arbeiter-Gesangvereine typisch sein mag, gut nachzuzeichnen ist.
Miltenberg und Lützel-Wiebelsbach. In der Hanauer Festschrift sind zwei Vereine nicht aufgeführt, die vor 1906 gegründet worden sind und über die nur spärliche Nachrichten vorliegen. Im hessischen Lützel-Wiebelsbach gab es einen Verein, von dem nur bekannt ist, daß er 1926 in Anwesenheit des »Arbeiter-Gesangvereins Bürgstadt«, über den im dritten Teil noch viel zu lesen sein wird, sein 25. Stiftungsfest feierte. Er muss also 1901 gegründet worden sein.
Umgekehrt ist von dem anderen Verein, dem 1903 in Miltenberg entstandenen »Arbeiter-Gesangverein Eintracht«, nur die Gründung bekannt. Er ist nicht zu verwechseln mit dem bürgerlichen Gesangverein »Gesellschaft Eintracht Miltenberg«. Jakob Schirmer, derzwischen 1869 und 1905 Bürgermeister von Miltenberg war, erwähnt ihn in seinen Erinnerungen, die in Handschrift vorliegen:
»Die soziale Frage, welche seit einer Reihe von Jahren im politischen Leben Deutschlands eine so große Rolle spielt und in viele Verhältnisse störend eingreift, war auch der Grund, warum sich am 12. März 1903 eine Anzahl von Arbeitern zusammenfand, welche von den bestehenden Vereinen noch einige Sänger an sich zog, und einen neuen Gesangverein unter obigem Namen gründete, der, gleichen Zwecken wie die übrigen Gesangvereine huldigend, lediglich Arbeiter unter seinen 24 Mitgliedern zählt.«
Wer dreimal fehlt, fliegt. Zwischen 1906 und dem Ersten Weltkrieg wurden zahlreiche neue Arbeiter-Gesangvereine gegründet. Im oberen Kahlgrund entstand 1908 in Krombach (heute Ortsteil von Schöllkrippen) der Arbeiter-Gesangverein »Frohsinn«. Aktive wie passive Mitglieder zahlten 40 Pfennig Monatsbeitrag. Das war viel Geld, und man kann daran erkennen, mit welchem Idealismus die Krombacher zu ihrem Verein standen. Daß sie auch ein Herz hatten, zeigt der Beschluß, Mitgliedern, die zum Militär eingezogen waren, bei ihrem ersten Urlaub drei Mark aus der Vereinskasse zu spendieren.
Streng wurde auf Ordnung geachtet. Wer nicht zur Probe kam, zahlte 10 Pfennig Strafe, und wer dreimal unentschuldigt fehlte, flog. 1922 trat man dem »Arbeiter-Sängerbund« bei und reiste schon im Mai 1924 auf geschmückten Pferdewagen nach Aschaffenburg, wo im Frohsinnbau (Weißenburger Straße, nicht mehr vorhanden) ein Wertungssingen stattfand. Im selben Jahr wurde ein Klavierangeschafft, es kostete 340 Mark. Zwei Jahre später gab es eine Spaltung. Eine Anzahl Sänger löste sich und gründete eine eigene Vereinigung unter dem für eine Abspaltung sinnigen Namen »Arbeiter-Sängerquartett Eintracht«. 1931 fanden beide Gruppen wieder zusammen und nannten sich nun »Freie Sängervereinigung Krombach«.
Die Krombacher lösen sich selbst auf. Sie verkaufen ihr Harmonium und setzen das Geld in Bier um.
»Freiheitssturm« in Nazi-Ohren. Auch als »Sängervereinigung« verloren die Krombacher nicht ihren Charakter. Den Nazis gegenüber legten sie eine Mischung von Schneid und Pfiffigkeit an den Tag. Im Protokollbuch ist unter dem 9. April 1933 nachzulesen:
»Die NSDAP hatte den Gesangverein zur Verschönerung eines >Deutschen Abends< zum Vortrag einiger Lieder eingeladen. Wir sind der Einladung gefolgt und brachten zum Vortrag >Der Völker Freiheitssturm< und >Ich warte Dein<. Nachdem die Aufführung kaum zu Ende war, ging ein Flüstern durch den Saal. Wir Sänger zogen uns ins Vereinslokal zurück. Um noch etwas zu retten, nahmen wir pro forma die Auflösung der >Freien Sängervereinigung< vor. Die Vereinschränke und das Harmonium wurden verkauft und das Barvermögen in Bier umgesetzt.«
»Vorwärts« mit Damen. 1911 entstand in Kahl der »Arbeiter-Gesangverein Vorwärts«. In der Anfangszeit gehörten ihm 80 aktive Mitglieder an. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der Verein eine zweite Blüte. Man gründete 1925 eine Frauenchor-Abteilung, die den Namen »Lyra« trug. 1933 erlitt der Verein das Schicksal der anderen Arbeiterchöre.
1913 wurde in Stockstadt bei Aschaffenburg der »Arbeiter-Gesangverein Sängerlust« gegründet. In einer später erschienenen Festschrift heißt es darüber: »In Deutschland hatte eine Reihe von Friedensjahren Industrie und Handel zur vollsten Blüte gebracht und niemand ahnte, daß über diesem Glück schon der Schatten des Ersten Weltkriegs lagerte. In jene entwicklungsfrohe Zeit fiel die Gründung des AGVs Stockstadt. Es waren nur neun Männer, die sich damals im Gasthaus >Zum Engel< ein Stelldichein gaben und den Grundstein legten. Ihre Begeisterung zur neuen Sache und ihre Liebe zum Gesang überwand alle Hindernisse und so wurde am 31. August (1913) derArbeiter-Gesangverein >Sängerlust< aus der Taufe gehoben.
Es war nur eine kleine Schar von Idealisten, die außer ihrer Begeisterung für das deutsche Lied über keine materiellen Güter verfügten. Mit geliehenen Noten, die die Brudervereine aus Großostheim, Schaafheim und Seligenstadt zur Verfügung stellten, ging man zuversichtlich ans Werk. Schon nach wenigen Wochen traten die Sänger mit dem Chor >Empor zum Licht< erstmals an die Öffentlichkeit.«
Lampionzug und schneidige Märsche. Nur ein Jahr war dem jungen Chor vergönnt, dann machte der Krieg dem Weiterwachsen ein Ende. Der hoffnungsvolle Neubeginn nach dem Ende des Krieges erreichte 1927 seinen Höhepunkt, als in Stockstadt das 3. Bezirkssängerfest abgehalten wurde. Der Bericht, den die »Aschaffenburger Zeitung« darüber veröffentlichte, zeigt, daß um diese Zeit die Arbeiter-Gesangvereine viele Formen des bürgerlichen Vereinslebens übernommen hatten:
»Stockstadt a. Main. Das diesjährige Arbeiter-Gesangsfest, das dem hiesigen Arbeiter-Gesangverein übertragen war, wurde in den Tagen des 25., 26. und 27. Juni gefeiert. Eröffnet wurde das Fest am Samstagabend mit einem Lampionzug, der durch ein schönes Musikstück des hiesigen Musikvereins eingeleitet wurde. Gesangliche und radsportliche Darbietungen der Ortsvereine trugen zum weiteren Gelingen des Kommerses bei.
Am Sonntag zog um 6 Uhr früh die Musikkapelle durch die Ortsstraßen und man bekam schneidige Märsche zu hören. Die Mittagsstunden brachten zahlreiche Vereine der näheren und weiteren Umgebung in unseren Ort. Nachmittags 2 Uhr bewegte sich dann der Festzug, der eine riesige Beteiligung aufwies, durch die reichgeschmückten Ortsstraßen zum Festplatze. Nach kernigen Ansprachen entwickelte sich hier ein fröhliches Treiben. Als Abschluß fand am Montag eine kleine Nachfeierstätt. Alles in allem: der hiesige Arbeiter-Gesangverein kann stolz auf diese Tage zurückblicken.«
In Stockstadt schmuggelt ein Mutiger aus dem versiegelten Vereinsschrank noch einige Noten heraus.
1933 wurde die Entwicklung durch das Verbot jäh beendet. Einem Mutigen gelang ein kleines Husarenstückchen. Er konnte aus dem bereits versiegelten Vereinsschrank noch die Noten einiger Freiheitschöre herausschmuggeln, um sie der Nachwelt zu erhalten.
Nur einige Vereine entstehen neu. Lediglich zwei führen heute noch das Wort »Arbeiter« im Namen.
Dass es beim Singen auch Harmonie ohne klassenkämpferische Dissonanzen geben kann, beweist der »Gesangverein 1863« von Klingenberg. In diesem Chor sangen seit seiner Gründung Arbeiter, Bergleute, Fischer, Handwerker, Geschäftsleute, ja sogar der Apotheker und der Amtsrichter einträchtig miteinander, ohne daß es aus politischen Gründen zu Unstimmigkeiten gekommen wäre.
Das hatte auch der Offenbacher Musikverleger Ludwig Andre, der lange Jahre Vorsitzender des Maintal-Sängerbundes war, bei seiner Festrede zum 16. Bundesfest in Klingenberg betont. Solche Gemeinsamkeit sollte auch an anderen Orten Schule machen, wo sich Bürger-Gesangvereine und Arbeiter-Gesangvereine gegenseitig befehdeten und miteinander konkurrierten.
Nun ist das »Phänomen Klingenberg« leicht zu erklären. Die durch ihr Tonbergwerk reich gewordene kleine Stadt konnte es sich leisten, jedem Bürger alljährlich zwischen 100 und 400 Mark als »Bürgergeld« auszuzahlen. So waren die Klingenberger Arbeiter und Bergleute finanziell besser gestellt als ihre Genossen in anderen Orten und es mangelte nie am Geld für das nach der Chorprobe fällige Bier oder den Schoppen.
Man sang mit der gleichen Begeisterung Silcher- und Schubertlieder, aber auch Arbeiterlieder wie »Die Grube brennt«, »Bergmannslos« und »Die Gedanken sind frei«. Niemand störte sich daran und der Dirigent erst recht nicht, er kam aus dem Arbeiterstand und war Schuhmacher. Im Laufe seines Bestehens sah der Verein einen Schneider und einen Schmied als Vorsitzende und einen Bergarbeiter als Kassier.
»Nachtzauber« beim Jünglingsverein. Bei den Arbeitersängern hatte der Erste Weltkrieg nicht nur die Weiterentwicklung der bestehenden Vereine gehemmt, sondern auch die Reihe der Neugründungen unterbrochen. Die 1920er Jahre erwiesen sich dafür dann wieder als ein guter Nährboden.
1922 entstand der »Arbeiter-Gesangverein Liederblüte Dettingen«. Er begann mit 24 Aktiven und erreichte beachtliche Chorleistungen. 1933 ereilte ihn das Schicksal der anderen Vereine. Bestanden haben 1922 schon Arbeiter-Gesangvereine in Kleinheubach und Reistenhausen-Fechenbach, deren Gründungsdaten unbekannt sind.
Die Kleinheubacher hatten im Gegensatz zu anderen Arbeiter-Gesangvereinen keine Probleme mit der Kirche oder den einheimischen konservativen Kräften. Sie traten neben der örtlichen »Sänger-Vereinigung« auf, als der Katholische Männer- und Jünglingsverein sein 25. Stiftungsfest feierte. Ehrenprotektor des jubilierenden Vereins war der in Kleinheubach residierende Alois Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, ein herausragender Repräsentant des katholischen Verbandswesens.
Allerdings boten die Gesänge, »Das Elternhaus« und »Nachtzauber«, auch keine Reibungspunkte. Am 10. August 1922 hielten die Kleinheubacher Arbeitersänger, wie wir bald in anderem Zusammenhang erfahren, ein Sängerfest ab.
Eine komplette Vereinsgeschichte. Die Nachrichten über die Existenz der 1922 bereits bestehenden Vereine von Kleinheubach und Reistenhausen-Fechenbach sind einem jener Glücksfälle zu verdanken, auf die jeder Forscher hofft und die gelegentlich sogar eintreten.
1922 war der »Arbeiter-Gesangverein Bürgstadt« gegründet worden. Sein Schicksal ist in einem Protokollbuch aufgezeichnet, das von einem Sänger vor der Vernichtung bewahrt und kürzlich von seinen Erben dem Markt Bürgstadt übergeben wurde. Dieses Protokollbuch enthält mit der Geschichte der Bürgstädter Arbeitersänger die vollständigste Schilderung des Lebens eines Arbeiter-Gesangvereins, die in unserem Gebiet aufzufinden war. Außerdem gibt es mit der Erwähnung anderer Vereine auch Hinweise auf Chöre, von denen wir sonst nichts wüßten.
Es beginnt: »Am 1. Mai 1922, dem Weltfeiertag des Proletariats, wurden durch den Arbeiter-Gesangverein Reistenhausen-Fechehbach bei der Mai-Kundgebung einige Chöre vorgetragen. Da erwachte auch in der BürgstädterArbeiterschaft der Wunsch, einen Chor zu gründen. Am 10. August 1922 lud derArbeiterGesangverein Kleinheubach die Bürgstädter zu ihrem Sängerfest ein. Einen Tag später trafen sich auf Anregung von Johann de Mattia die Genossen im Gasthaus >Zum Adler< und gründeten den >Arbeiter-Gesangverein Bürgstadt<«.
Strenge Bräuche. Bei den Bürgstädter Arbeitersängern herrschte Ordnung. Wer Chormitglied werden wollte, hatte zuerst während dreier Proben seine Sangeskünste den kritischen Ohren des Chorleiters darzubieten, dann mußte er vom Ausschuß akzeptiert und schließlich von allen Chormitgliedern per Stimmzettel gewählt werden.
Es wurde Buch darüber geführt, wer zur Probe kam. Als der Schriftführer dreimal geschwänzt hatte, wurde er gnadenlos »passiv geschrieben«, das heißt, aus dem Chor in den Zustand des zahlenden Mitgliedes versetzt. Wegen Beleidigung des Dirigenten wurden zwei andere Sänger aus dem Chor ausgeschlossen.
Das Geld war knapp. 1926 reichte es gerade für einen Notenschrank und eine Glocke, für Notenumschläge und einige Schnellhefter. Trotzdem waren die Bürgstädter sehr reisefreudig und sie fanden auch immer einen Grund, sich auf den Weg zu machen.
»Tord Foleson« für Friedrich Ebert. Im Laufe derJahre ging es nach Aschaffenburg(1926, 30. Stiftungsfest der »Union« und 2. Bezirkssingen), Lützel-Wiebelsbach (1926, 25. Stiftungsfest), Stockstadt (1927, 3. Bezirkssingen), Heubach im Odenwald (Bannerweihe beim Bruderverein), Höchst und Kleinostheim (Feste der dortigen Arbeiter-Gesangvereine), Schaafheim (1928, 4. Bezirkssingen), Mömlingen und Großostheim (Arbeitersängerfeste), Eisenbach (Fahnenweihe) und Freudenberg (Ausflug zum dortigen Arbeiter-Gesangverein).
Aber auch daheim war was los. Im Juni 1927 wurde bei der Zentgrafenkapelle ein Gedenkstein für den 1925 gestorbenen Reichspräsidenten Ebert enthüllt. Die Feier wurde mit »Ein Sohn des Volkes …« und »Tord Foleson« umrahmt.
Die Lyra und der Schwan auf dem roten Seidendamast der Fahne. Schärpen zeigen schwarz-rot-gold.
Das Prachtstück, die Fahne. Im Herbst desselben Jahres wurde beschlossen, eine Fahne anzuschaffen. Sie wurde zum 1. Juni 1928 von der Fahnenfabrik Josef in Speier geliefert und maß 1,20 mal 1,20 Meter. Die eine Seite, elfenbeinfarben, trug das Bild einer Freiheitsgöttin, dazu den Spruch »Du starker Quell, deraus dem Felsen bricht, Du freies Lied, empor zum Licht«. Die andere Seite bestand aus rotem Seidendamast und zeigte eine Lyra mit einem Schwan und zwei ineinanderliegenden Händen, dazu die Inschrift »Arbeiter-Gesangverein Bürgstadt 1922-1928«.
Im Preis von 650 Mark eingeschlossen waren drei Schärpen in schwarz-rot-gold, eine Fahnenstange mit Spitze, ein Tragegurt sowie 30 Jahre Garantie für Stickerei und Stoff.
Am 24. Juli 1928 war Bannerweihe. Der Festausschuß hatte befreundete Gesang- und Sportvereine, Gewerkschaftler und SPD-Genossen nach Bürgstadt gerufen und in der »mit freiem Sängergruß« unterzeichneten Einladung darauf hingewiesen, daß Bürgstadt die einzige Gemeinde in Bayern ist, in der es einen Ebert-Gedenkstein gibt.
Als Fahnenpate war der »Arbeiter-Gesangverein Union« aus Aschaffenburg gekommen. Gefeiert wurde drei Tage und drei Nächte lang. Es gab eine Fahnenbraut, Festdamen und weißgekleidete Ehrenjungfrauen. Ein Oberregierungsrat hielt die Festansprache, ein Prolog wurde vorgetragen und natürlich ein Festzug veranstaltet.
Der Bericht, mit dem der Miltenberger »Bote vom Untermain« das Ereignis würdigte, zog sich über eine Zeitungsseite hin. Der Berichterstatter ließ sich von Tord Foleson die Feder führen und schwärmte die neue Fahne an: »Durch Mühe und Opferfreudigkeit ist das Ziel erreicht. Treu wollen wir zu der Fahne halten, frei und stolz soll sie wehen! Unser Beschützer soll sie sein, unter ihren leuchtenden Farben wollen wir kämpfen. Fällt auch der Mann, das Banner wird stehen.«
In den 1920er Jahren näherten sich die Arbeiter-Gesangvereine nicht nur mit den Formen ihres Vereinslebens, sondern auch mit ihrem Repertoire immer mehr den bürgerlichen Gesangvereinen. Trotzdem wurden die politischen Akzentuierungen beibehalten. In Bürgstadt kam es sogar während einer Beerdigung zu einem Eklat mit dem Ortspfarrer. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die meisten Vereine kein Interesse an einer Neugründung. Aber einige entstanden wieder. Im Laufe der Zeit strichen die meisten von ihnen das Wort »Arbeiter« aus dem Vereinsnamen. Sie befürchteten, eine einseitige Klassifizierung stünde dem Zugang neuer Mitglieder im Weg. Nur in Schaafheim und Frammersbach heißen die Arbeiter-Gesangvereine heute noch »Arbeiter-Gesangverein«. Sie unterscheiden sich aber nur durch den Namen von anderen bürgerlichen Vereinen.
Bürgerlicher Einschlag. Das Vereinsleben unterschied sich über weite Strekken kaum noch von dem eines bürgerlichen Chores. Man veranstaltete Weihnachtsfeiern, Maskenbälle, Kappenabende und Verlosungen und gestaltete Gedenkfeiern für die Gefallenen mit. Und man spielte Theater. Die Namen der Stücke ähneln denen, die von bürgerlichen Vereinen aufgeführt wurden, zum Verwechseln und müssen herrliche Melodramen gewesen sein. Wenige Titel sagen viel: »Vater und Sohn«, (Drama in einem Akt), »In Jägertracht« (Wildererdrama), »Des Schicksals Walten«.
Die beliebtesten Chöre, die bei den Bürgstädter Arbeitersängern erklangen, waren »Waldandacht«, »Hymne an die Nacht«, »Waldesrauschen«, »Ich warte Dein«, »Weihe des Gesangs« und natürlich »Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben« und »Tord Foleson«.
Immer wieder kam auch die schmerzliche Pflicht, von einem Sängerfreund Abschied nehmen zu müssen. Tief in das Gedächtnis eingegraben hat sich der Tod von drei Arbeitersängern, die bei einem schweren Steinbruchunglück ums Leben gekommen waren.
Die Toten waren im Rathaus aufgebahrt. Neben Bürgermeister Fürst sprach der Aschaffenburger SPD-Politiker Georg Dewald, der damals Landtagsabgeordneter und Chefredakteur der sozialdemokratischen »Aschaffenburger Volkszeitung« war und von 1953 bis 1961 dem Bundestag angehörte. Er würdigte das harte Los der Arbeiter. Drei Chöre erwiesen den Toten die letzte Ehre, die beiden bürgerlichen Gesangvereine, die es in Bürgstadt gab, und unter der Leitung von Oberlehrer Siebenlist der Chor des Arbeiter-Gesangvereins, dem die Toten angehört hatten.
Spannungen zwischen dem Pfarrer und den Arbeitersängern entladen sich über einem offenen Grab.
Politische Akzentuierungen. Aber die politischen Akzentuierungen blieben bestehen: Mitwirkung bei der Enthüllung eines Ebert-Gedenksteins in Amorbach, Chorvorträge bei SPD-Kundgebungen, Teilnahme an einer Kundgebung der »Eisernen Front« und anderes mehr sind im Protokollbuch verzeichnet. Der Einsatz für die Sozialdemokratie hatte ausgereicht, um zwischem dem Verein und dem katholischen Ortspfarrer eine Spannung aufzubauen, die sich ausgerechnet bei einer Beerdigung entlud. Nach der Schilderung, die im Protokollbuch verewigt ist, hatten die Arbeitersänger über dem offenen Grab eines Sangesbruders und Genossen den Choral »Da unten ist Frieden« angestimmt. Als die letzte Strophe begann, in der es heißt »Auf ewig nun still steht hier sein Herz« habe plötzlich der Pfarrer gerufen: »Das ist nicht wahr, ihr Kommunisten leugnet damit die Auferstehung!«
Zum Entsetzen aller habe der Geistliche mit seinen Ministranten »fluchtartig«, wie der Protokollführer es empfand, und ohne die Beisetzung zu Ende zu bringen, den Gottesacker verlassen. Ohne Rücksicht auf die Leidtragenden sei er lauthals schimpfend über die Gräber gerannt. Die Sänger brachten mit einem Tremolo, das ihre zitternden Stimmen von ganz allein hergaben, das Lied zu Ende. Die Trauergemeinde war in Ratlosigkeit erstarrt.
Ein paar Tage später schrieb der Vereinsvorstand einen Brief an das Bischöfliche Ordinariat nach Würzburg und bat, dem Pfarrer künftig solche Entgleisungen zu untersagen. Der Gemeinderat fügte ein Schreiben bei, in dem er noch auf Angriffe einging, die der Pfarrer am nächsten Tag von der Kanzel herab gegen den Arbeiter-Gesangverein, die Gewerkschaft und die Sozialdemokratische Partei gerichtet habe.
Der Vorstand beschloss, in künftigen Fällen die Entscheidung den Angehörigen zu überlassen. Sollten sie, um Komplikationen auszuschließen, keinen Grabgesang wünschen, würde der Verein das respektieren, würde dann allerdings auch nicht korporativ an der Beerdigung teilnehmen. Als 1931 wieder ein Arbeitersänger im Steinbruch verunglückte, waren vorher von beiden Seiten her die Wogen geglättet worden. Der Chor hatte Lieder einstudiert, an denen der Pfarrer keinen Anstoß nehmen konnte, und die Beisetzung verlief ohne Zwischenfall.
Der Verfügung Folge geleistet. 1929 wurde ein Klavier angeschafft, 1930 verzichtete man auf den Kappenabend, weil die meisten Mitglieder arbeitslos waren. Auch 1932 wurden wegen der wirtschaftlichen Not keine größeren Veranstaltungen abgehalten. Trotzdem stieg die Mitgliederzahl. Der Chor hätte ein friedliches und erfolgreiches Dasein führen können, wenn nicht die Nationalsozialisten die Macht übernommen hätten. Die letzte Protokollbuch-Eintragung meldet die Auflösung des Vereins. Der Besitz des Vereins fiel den Nazis in die Hände. Die Fahne verschwand.
Dem Bürgstädter Protokollbuch verdanken wir neben den Hinweisen auf Kleinheubach und Reistenhausen-Fechenbach die Erwähnung von fünf weiteren Arbeiter-Gesangvereinen, deren Existenz nicht bekannt wäre, hätten die Bürgstädter nicht mit ihnen Kontakt gehabt. Es sind die Vereine von Heubach, Höchst im Odenwald, Lützel-Wiebelsbach (alle Hessen), Mömlingen (Bayern) und Freudenberg (Baden). Mit den Lützel-Wiebelsbachern feierten die Bürgstädter 1926 das 25. Stiftungsfest.
1925 mahnt ein Wertungsrichter beim Konkurrenzsingen: Die Liedertage sind keine Kampftage.
Frohsinn und Einigkeit. Eine Zusammenfassung der Vereine, die 1925 im 16. Bezirk existierten, bietet dieTeilnehmerliste des Kritiksingens, das am 18. Oktober dieses Jahres in Aschaffenburg stattfand. Außer den schon genannten Vereinen waren dabei:
»Arbeiter-Sportverein Babenhausen«, »Arbeiter-Gesangverein Langstadt«, »Arbeiter-Gesangverein Einigkeit Wasserlos«, »Arbeiter-Gesangverein Bruderkette Seligenstadt«, »Gesangverein Frohsinn Seligenstadt«, »Arbeiter-Gesangverein Schimborn«, »Arbeiter-Gesangverein Edelweiß Großwelzheim«, »Frauenchor Seligenstadt«, »ArbeiterGesangverein Strötzbach«, »Arbeiter-Gesangverein Einigkeit Großostheim«. Die Kritik über die Leistungen der Chöre wurde gedruckt und den Vorsitzenden zugeleitet. Eines der Exemplare befindet sich noch in Mainaschaff. (Anmerkung: Ich besitze drei solcher Exemplare: 1922, 1925 und 1926). Die Wertungsrichter hatten kein Blatt vor den Mund genommen, jeder Verein konnte nachlesen, wie er beurteilt wurde. Im Vorwort wurden allgemeine Empfehlungen gegeben, zum Beispiel: »Liedertage sollten für unsere Arbeiter-Sänger keine Kampftage, sondern Festtage sein. Jede Vortragsfolge mußfürdie Hörerein inneres Erlebnis sein. Das setzt voraus, daß die einzelnen Chöre inhaltlich in einer inneren Verbindung zueinander stehen. Man kann nicht das Mozart’sche >Ave verum< neben das Wengert’sche >Gespensterschiff< stellen. Möge meine Kritik die Leistungsfähigkeit der Vereine steigern helfen, um dadurch die Arbeiter-Sängerbewegung der Kunst noch näher zu bringen«.
Das Repertoire wandelt sich. Auch die Arbeitersänger finden jetzt Gefallen an Kunst- und Volksliedern.
Wandel des Repertoires. Bei dem Kritiksingen wurden 36 Gesänge vorgetragen. Titel und Komponisten sind bekannt und geben einen Einblick in den Wandel, den das Repertoire der Arbeiter-Gesangvereine seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg durchgemacht hat. Dieser Wandel verlief parallel zu der schon bei den Vereinen in Stockstadt und Bürgstadt festgestellten Neigung der Arbeitersänger, viele Formen des Vereinslebens der bürgerlichen Vereine zu übernehmen. Das Kritiksingen von 1925 lässt die Tendenz erkennen, die Leistungsfähigkeit der Arbeiter-Gesangvereine mit dem Kunstlied zu beweisen, das von Anfang an die Domäne der bürgerlichen Vereine war. Sein Programm könnte genauso gut von einem Wertungssingen des Maintal-Sängerbundes dieser Zeit stammen und hat keinen inneren Zusammenhang mehr mit der Arbeiterbewegung.
Von den 36 Liedern gehören 15 heute noch zum Programm traditioneller Männerchöre: »Untreue«, »Ännchen von Tharau«, »Schifferlied«, »Wohin mit der Freud’«, »Frisch gesungen« und »Schottischer Bardenchor«, alle von Friedrich Silcher. Weiter »Der Morgen« von Ludwig Baumann, »Die Nacht« in den Vertonungen von Franz Abt und Franz Schubert, »Im Walde« von Felix Mendelssohn-Bartholdy, »Der Lindenbaum« von Schubert, »Abschied hat der Tag genommen« von Valentin E. Becker, und »Agnus Dei« von Hanns Leo Haßler. Drei »Volkslieder« standen ohne Namen von Komponisten auf dem Programm. Daneben erklangen 18 Chöre, die (»Die drei Zigeuner« zum Beispiel, »Am Bergstrom«, »Liebesklage«, »Jägerwerben«, »Das Glöcklein im Tale«, »Heimkehr«) zusammen mit der Bedeutung ihrer Komponisten aus Geschmacksgründen die 1930er Jahre nicht überlebt haben.
»Maiglöckchen« beklagt Sängerklau. Aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gibt es noch einige weitere Nachrichten. Viele stammen nur aus kurzen isolierten Notizen oder bestehen aus indirekten Querverweisen.
1927 wurde in Kleinostheim ein Arbeiter-Gesangverein gegründet. Man weiß es aus dem Festbuch der Kleinostheimer bürgerlichen Sängervereinigung »Maiglöckchen 1926«, in dem der Rückschlag beklagt wurde, den sie dadurch erlitten, daß die Arbeitersänger viele »Maiglöckchen« an sich zogen. Auch im Bürgstädter Protokollbuch taucht der Kleinostheimer Arbeiter-Gesangverein auf, als er ein Sängerfest veranstaltete, das von Bürgstadt besucht wurde.
Ebenfalls 1927 beging der »Arbeiter-Gesangverein Seckmauern« seine Fahnenweihe. 1928 weihte der Eisenbacher Arbeiter-Gesangverein seine Fahne. Er scheint der einzige gewesen zu sein, dem es 1933 bei der Auflösung glückte, das Kassenbuch und anscheinend auch die Guthaben zu retten, und wandelte den Bestand des verbotenen Chors in einen Gemischten Chor um.
Am 27. Juni 1928 war der »Arbeiter-Gesangverein Einigkeit Großostheim« beim 25. Stiftungsfest der »Bruderkette« in Schaafheim dabei. Am 4. August 1929 veranstaltete der »Arbeiter-Gesangverein Elsenfeld« ein Werbesingen.
Ganz zuletzt: Frammersbach. Der letzte Arbeiter-Gesangverein, dessen Geschichte gut zu verfolgen ist, wurde in Frammersbach bei Lohr gegründet. Im Ortsteil Schwartel hatten sich 1922 Einwohner zu einem Gesangsquartett zusammengefunden, aus dem am 27. Februar 1927 der »Arbeiter-Gesangverein Sängerlust« entstand. Man begann mit 43 Aktiven. Das Gründungsfest wurde in Anwesenheit von 2000 Gästen auf dem Turnplatz gefeiert.
Der Ortsgeistliche zelebrierte einen Festgottesdienst. Dazu waren, in Frammersbach gab es viele Schneider, die aktiven Sänger im Gehrock erschienen, aber das darf nicht täuschen, Geld war knapp. Es gab nicht einmal ein Klavier, der Chorleiter spielte die Stimmen auf der Geige vor. Unter großen Opfern wurde dann ein Klavier angeschafft, es kostete 1 100 Mark. Dazu gaben einige Mitgliederzinslose Darlehen. 58 Frammersbacher Holzauslader, die auswärts beschäftigt waren und 40 Pfennig in der Stunde verdienten, stifteten »ihrem Arbeiter-Verein« 290 Mark. Eine Haussammlung brachte 599 Mark. Der Verein wurde straff geführt und lebte problemfrei mit den anderen örtlichen Vereinen.